Eunji Seo

Die erste Einzelausstellung der Künstlerin bei HELDENREIZER Contemporary ist eine spannende Interaktion von Malerei mit Räumlichkeit. Feine wabernde Graphit-Linien laden die Besucher zur genauen Betrachtung ihrer Leinwände ein.
Mit unbeugsamem Willen und höchster Präzision begibt sich Eunji Seo in ihren jüngsten Werken auf die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Kontrolle und der Potenz des Zufalls. Ihre neuen Werke fordern mit ihrer hypnotisierenden Repetition besondere Aufmerksamkeit bei der Betrachtung. So kommen wir vom sanften Flimmern der Oberflächen über geometrische Rhythmen hin zu den kleinen Anomalien, die allem menschlichen Schaffen innewohnen.
Die Künstlerin siedelt ihre Bilder an der Grenze menschlicher Wahrnehmung an, sodass die Betrachtenden sich immer wieder zwischen Seh- und Leseprozess entscheiden müssen. Auch wenn wir zunächst geometrischen Formen sehen, treten mit geringerem Abstand zunehmend die technischen Details in den Vordergrund. Der individuelle Graphitstrich, auf einem zarten Raster aus hellgrauen Koordinationspunkten, versinnbildlicht den inhärenten Widerspruch innerhalb des Prinzips von Wiederholung und Differenz, wie Gilles Deleuze ihn formulierte. Je mehr Striche das Auge erfasst und damit automatisch miteinander vergleicht, umso offensichtlicher werden die feinen Unterschiede zwischen den kleinsten Komponenten der scheinbar makellosen Komposition.
Es ist ebendieser Fokus auf die Zusammensetzung der kleinsten Ebene, der sich in Werktiteln wie (6,10), +20 -20 oder 1, 10, 2 wieder findet. Dabei stehen die Ziffern für einzelne Strichlängen beziehungsweise Positionen oder für Abstände auf dem anfänglich leeren Raster. Aufgetragen werden Raster und Striche mit dem immer gleichen Druckbleistift, den die Künstlerin stets mit denselben Mienen befüllt. In allen Betrachtenden erfordert das Gesehene zwar ähnliche biologische Prozesse, wie das Erkennen der einzelnen Striche als ganze Bilder, doch die Einordnung des Gesehenen und seine Interpretation ist von Mensch zu Mensch verschieden. Nur die Wahl der Hintergrundtonalität, meist in vielen Schichten als Lasur aufgetragen, trifft Seo intuitiv. Auf diese Weise reichert sie ihr System mit dem unkalkulierbaren Wert menschlicher Erfahrung an. Unabhängig von Aberglauben und magischem Denken, nutzt Eunji Seo den befreienden Moment des Zufalls und lässt ihn mit ihrer stoischen Reglementierung konkurrieren. So entbindet sie ihre Bilder von deren semiotischer Verpflichtung. Darüber hinaus wagt Seo erneut den Schritt von der Wand in den Ausstellungsraum, indem sie drei ihrer Werke als riesige, zylindrische ‚Leinwandsäulen‘ in den Raum entwachsen lässt.

Eunji Seo
(5,1) + 2 (Variante), 2021
Acryl und Graphit auf Leinwand
90 x 90 cm / 35 3/8 x 35 3/8 in